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früher war alles viel grösser

künstler leena krüger
ausstellungsort göttingen, torhausgalerie
datum 02.11.–02.12.2018

einführung zur ausstellung

Meine Damen und Herren,
der Titel dieser Ausstellung weist bereits darauf hin:

Es geht um das Gedächtnis.
Darauf komme ich gleich zurück.

Aber beginnen möchte ich mit einer persönlichen Erinnerung.
19 Jahre ist diese Erinnerung jetzt alt.

Am 12. November 1999 hatten wir zur Eröffnung der Ausstellung von Papiermalerei von Leena Krüger im damaligen Landeskrankenhaus Göttingen eingeladen.

Damals hatte ich Leena Krüger gefragt, „Warum wird diese Ausstellung gerade im November gezeigt?“

Herbst und Winteranfang, so bekam ich zur Antwort, sei gerade ihre kreativste und aktivste Zeit. Das sei schon immer so gewesen.

Außerdem könne man sich fragen: Wann haben die Leute Interesse an Kunst?
Im November fallen die Blätter, das Licht werde spärlicher, die Welt leerer. Das gerade könne die Aufnahmebereitschaft für Kunst fördern.

Das war vor neunzehn Jahren.

10 Jahre später, diesmal an einem 22. November, konnten wir dort die Ausstellung „usva“ – das bedeutet „Nebel“. Damals hieß es:
„Sie, liebe Gäste, haben jetzt die Gelegenheit, wo es draußen November geworden ist, sich von der ruhigen Schönheit nördlicher blau-grauer Farben ermutigen zu lassen, den November zu überstehen.“

Jetzt, neun Jahre später, am 2. November 2018, freue ich mich über die neuerliche Möglichkeit, mit der Kunst Leena Krügers den November besser überstehen zu können.

Leena Krüger würde 1953 in Jyväskylä in Finnland, einer Universitätsstadt mit ungefähr soviel Einwohnern wie Göttingen, geboren.
Bereits in Finnland hat sie mit der Malerei begonnen. Wesentliche Orte für ihr Schaffen waren dann auch Ecuador – ich erinnere mich an eine beeindruckende Ausstellung mit Bezug dazu. Der Cimborasso, dieser, wie man es nimmt, evtl. höchste Berg der Erde, wurde in zahlreichen kleinformatigen Darstellungen künstlerisch eingefangen.
– Formate, wie wir sie auch hier in dieser Ausstellung finden –

Eine Ausstellung hier in Göttingen, 2004, trug den Titel: „Gedächtnis der Orte“.
Dieser Titel bezog sich auf einen Text von Aleida Assmann.
Dort war formuliert:
„Das Gedächtnis kennt nicht den behäbigen und unbestechlichen Maßstab chronologischer Zeitrechnung.
Es kann das Allernächste in unbestimmte Ferne und das Ferne in bedrängende Nähe rücken. …
Die eigentümliche Verbindung von Nähe und Ferne macht diese [Orte] zu aureatischen Orten, an denen man einen unmittelbaren Kontakt zur Vergangenheit sucht.“

Meine Damen und Herren, da sind wir wieder beim Thema, dem Thema Gedächtnis!

„früher war alles viel größer“ – wie ist das zu verstehen?
Ist mit der Zeit alles unbedeutender geworden, oder erschienen uns die Dinge in der Kindheit größer, weil anderes, größeres noch nicht kannten, weil wir selbst noch klein waren?

Das Gedächtnis setzt neu Erlebtes zu früheren Erfahrungen in einen Kontext, um es einordnen zu können.
Schicht auf Schicht wird da aufeinander gelagert. Frühere Erfahrungen erscheinen in einem neuen Licht. Ältere Erinnerungen werden in ihrer Bedeutung für das hier und jetzt überlagert und damit verändert. Manches Erleben verliert seine Einzigartigkeit und gewinnt doch an Komplexität.

Das Gedächtnis spielt uns dabei manchen Streich, verknüpft es doch viele Erinnerungsbilder gern mit den Gefühlen, die wir damals hatten, als wir die Dinge zum ersten Mal erlebten.
Manchmal verlegt unser Gedächtnis Ereignisse auch an andere Orte, manchmal kann es Akteure austauschen, Erinnerungsfetzen aus ganz anderen Kontexten in die aufgerufene Erinnerungspassage einbauen.
Unser Gedächtnis stellt Verknüpfungen her, die vielleicht auf Tatsachen beruhen, vielleicht aber auch in neue Kontexte führen, die uns dann, wenn das gut gelingt, die Welt besser verstehen lehren.

Es ist möglich, eine Person suggestiv so beeinflussen, dass sie sich an Dinge erinnert die so gar nicht waren, wir können Erinnerungen provozieren, die auf keiner realen Grundlage beruhen.

Was davon finden wir nun in den Arbeiten von Leena Krüger wieder?

Leena Krügers Arbeiten korrespondieren mit dieser Struktur des Gedächtnisses, wie ich sie geschildert habe.

Aus der Verbindung der Materialien entsteht Bewegung. Die Farbaufträge sind häufig in licht – gedeckten Tönen gehalten.
Die Bilder wachsen Schicht um Schicht, manchmal über lange Zeiträume. Da werden Schichten überdeckt, andere freigelegt. Andere verändern ihren Charakter. Die Materialien werden immer wieder
bearbeitet, und plötzlich tut sich in den Farbschichtungen vor unserem Auge die ganze Landschaft auf. Jede Schicht lässt uns assoziieren, auch wenn eigentlich gar keine konkreten Figuren oder Gegenstände oder Landschaften dargestellt wurden: wir assoziieren sie. So geht es jedenfalls mir.
Die Schichtungen des Gedächtnisses, wie ich sie beschrieben habe, finden wir in der Gestaltung der Arbeiten Leena Krügers wieder. Jede neu aufgetragene Schicht, jedes neu hinzu gefügte Element einer Collage, verändert die Bedeutung der darunter liegenden.

Sehen wir uns um!
Leena Krüger gestaltet eine Wand mit kleinformatigen Arbeiten, die präzise in eine geometrische Form gehängt sind. Äußere Sicherheit und Struktur ist da. Sie mögen an Kacheln erinnern, Kacheln, wie wir sie hier in diesem Raum am Fußboden vorfinden.

In jener Arbeit, die auch in der Einladung zu dieser Ausstellung zu sehen ist, verschwimmt nach rechts alles in einem Nebel, der fast an die späten Arbeiten William Turners erinnern mag, in der völlig abstrakten scheinbar festen und haltgebenden Struktur so aber eben vor allem immer wieder in den Arbeiten Leena Krügers anzutreffen ist. Es stellt Reihe der Arbeiten an dieser Wand eine besondere Art von Assoziation an das Licht her.

Das Bild finden Sie an der Wand an zentraler Stelle. Es ist vielleicht viel kleiner, als Sie vermutet haben mögen, als Sie es auf der Einladung gesehen haben.

„Früher war alles viel größer!“

Diese kleinformatigen Werke lösen komplexe Assoziationen aus. Vielleicht kann man sie mit dem Begriff „Visuelle Aphorismen“ beschreiben. Den Begriff „Aphorismus“ verbindet man für gewöhnlich mit Sprache.

Wie stehen die Arbeiten Leena Krügers eigentlich mit der Sprache, mit ihren Titeln in Zusammenhang?

Da es hier um das Erinnern geht und um vertraute/verblasste Bilder aus dem Erlebten, hat Leena Krüger allen neueren Arbeiten Finnische Titel gegeben.
Hier einige: Aamulla, Illalla, Astia, Lumi, Varjo, Tiet, Vesi, Tumma, Vaalea, Yö suolla, Kylmä, Sininen
Die Worte bedeuten etwas wie: Am Morgen, Am Abend, Gefäß, Schnee, Schatten, Wege, Wasser, Dunkel, Hell, Nacht am Moor, Kalt, Blau.
Die Wörter habe sie auch nach dem reinen Wortklang ausgesucht, losgelöst von der eigentlichen Bedeutung.

Nicht nur Klang der Sprache, kann dabei unsere Fantasie beeinflussen. Musik kann das – hier vielleicht die Stücke des finnischen Komponisten Melartin, die Michael Schäfer uns hier so eindringlich vorträgt.
Auch der Kontext des Ortes, in dem wir die Arbeiten betrachten, wird das tun.
Der Ort, an dem wir diesen Bildern begegnen kann das allemal.

Wir wissen alle, dies ist das Torhaus eines Friedhofes.

An diesem Ort hat man sich über lange Zeit vor allen mit dem Tod, aber auch mit dem Gedenken vielleicht für viele, jedenfalls für den einzelnen bedeutende Menschen auseinandergesetzt.
Tod und die Erinnerung sind hier gegenwärtig. Dazu kommt die Hoffnung auf die Transzendenz, an den Übertritt in das Jenseits, vielleicht das Paradies.

„Grenzlinie“ heißt ein Bild.

Ein scharf begrenzter Durchblick auf Zukünftiges? Düsteres Verdecken einer freundlichen Lebensrealität? Welche der Schichten ist die frühere?

„Langsam gewachsen“: das großformatige Bild kann daran erinnern, dass auf einem Friedhof auch Pflanzen wachsen, dass neues Leben entstehen kann, das Wiedererwachen der Natur, auch wenn vielleicht noch vieles von Nebeln überdeckt ist.

Was ist das eigentlich, was da hinten den senkrechten weißen Linien (sind es Gitterstäbe) durchschimmert? Ist das eine düstere Landschaft wie vielleicht bei Franz Radziwill? Liegt hinter diesen Stäben eine andere Welt?

Die Torhausgalerie, besitzt in ihrer Architektur Elemente, die dazu beitragen sollen, den Trauernden Halt zu geben, z.B. in dem der Fußboden in geometrischen Schwarz-Weiß-Muster gestaltet ist. Das sollte vielleicht davor schützen, dass man den Halt, den Bodenkontakt verliert, wenn man hier in seiner Trauer Abschied zu nehmen hatte.

Leena Krüger nimmt diese Fußbodenstruktur in zweierlei Weise auf.

In einem großen Triptychon deutet sie die vermeintliche Sicherheit eines solchen Bodens um in Eisschollen. Diese Eisschollen sind zerbrochen. Manchmal scheinen sie dennoch Halt zu geben, wirken wie Gleise in eine unsichere Zukunft. Aber sie transportieren auch Kälte, die unsere Gefühle und Erinnerungen in Unsicherheit wandelt, und wer denkt da nicht an die Erderwärmung und das Schmelzen der Polkappen. Die große wandfüllende Arbeit mit den „Eisschollen“ trägt das Datum als Titel, an welchem Leena Krüger diese Schollen auf der Überfahrt betrachten konnte: 26.02.2006.

Ergänzt oder kontrastiert, – ganz wie Sie wollen – wird dies durch ein Objektbild: Keine Malerei, sondern eine ertrunkene Libelle, wunderbar erhalten, in Finnland in einem See gefunden, befestigt auf mit roten Nagellack bemalten Untergrund. Das kleine Kästchenbild mit der schönen Libelle verweist für Leena Krüger auf die unsterbliche Schönheit der Natur. Der Kontext zu den brüchigen Eisschollen ist so unmittelbar herzustellen.

In diesem Raum geht es vor allem um das Schmelzen.
Eine Arbeit macht das Nebeneinander von Todeskälte, die in der Hoffnung auf Transzendenz schmelzen kann, besonders deutlich. In diesem Bild ist besonders viel Violett, in den Farben des evangelischen Kirchenjahres assoziiert sowohl mit der Passionszeit wie mit dem Advent, weil der Übergang ins Paradies ja auch etwas mit Tod, und mit Erwartung der Erlösung zu tun hat.
Gleichzeitig suggeriert es uns Erinnerungen an Wasser. Die Darstellung „Toteninsel“ von Arnold Böcklin mag uns dazu einfallen, aber auch der Fährmann Charon, der die Verstorbenen auf seinem Floß ins Totenreich bringt. Aber gerade auch die finnische Mythologie bringt den Übergang mit Wasser in Verbindung (musikalisch sehr eindrucksvoll: „der Schwan von Tuonela“ von Jean Sibelius).
Tuonela kann als Übersetzung des Begriffs Hades verstanden werden, auch als Rastplatz vor dem jüngsten Gericht.
Das Bild ist auf Aluminiumuntergrund entstanden.
Aluminium ist kühl, glatt, sachlich.
„So wird das Bild nicht zu süß“, meint Leena Krüger.

Meine Damen und Herren!

Leena Krügers Werke sind vielschichtig – in doppelter Bedeutung:

Leena Krüger malt in Schichten, immer wieder wird überarbeitet. Das was darunter liegt, wird mitgetragen, kann nicht wirklich weggewischt werden.
Das ist wie die Wahrheit, die hinter jeder Erinnerung liegt,
mag unsere Erinnerung dieser auch noch so viel hinzugefügt oder ausgewischt haben. Schreckliches kann darunter begraben sein, aber ebenso Hoffnungen. Hoffnungen, die früher so wichtig waren, im Lauf der Zeit aber immer mehr an Bedeutung verloren haben und durch andere ersetzt wurden.

Kälte und Wärme, Tod und Paradies, Großes und Kleines in eins: das können wir hier erleben.

Sei es wie wolle, Assoziationen werden sich allen von uns aufdrängen. Wir erfahren, dass unsere Erinnerungen uns aufsuchen, katalysiert durch die Kunst Leena Krügers.

… früher war alles viel größer ….


Dr. Manfred Koller