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die zeit heilt alle wunden – teil 2

künstler diana janecke, leena krüger, matthias walliser
ausstellungsort hannover, städtische galerie kubus
datum 14.02.–13.03.2016

einführungsrede zur ausstellung

„Die Zeit heilt alle Wunden“ kündet das Spruchband: als traditionelle Stickarbeit und als Rätsel. Heilt die Zeit alle Wunden? Glaubt man dem Internet, so ist dies ein Sprichwort, dessen Wahrheitsgehalt eher zweifelhaft ist. Alleine die Seite Sprichwort-Plattform.org listet 21 Beispiele für diese Zweifel auf (und keine einziges Positivbeispiel). Für die Ausstellung in Braunschweig haben Diana Janecke, Leena Krüger und Matthias Walliser das gestickte Spruchband in einen Kleidersack eingemottet – und es damit vor den Zeichen der Zeit geschützt. Ob das förderlich für den Heilungsprozess ist, bleibt abzuwarten. In der ebenfalls für diese Ausstellung entstandene Arbeit „Pass auf dich auf“ verbinden Diana Janecke und Leena Krüger den Spruch „Die Zeit heilt alle Wunden“ mit der Frage des „Immer und überall mit allen verbunden Seins“ und der damit verbundenen Problematik der Abgrenzung. Denn auch in sozialen Netzwerken sind wir verwundbar – und das Netz vergisst nichts – oder nur sehr schwer und nur auf Gerichtsbeschluss.

Leena Krüger, Diana Janecke und Matthias Walliser hinterfragen die Dinge. Wie funktioniert das Erinnern? Wie manifestieren sich Spuren der Vergangenheit und was lässt sie möglicherweise verblassen? Oder tatsächlich heilen? Was passiert tatsächlich mit den Verletzungen? Die Künstler führen uns vermeintlich heilende Wunden vor wie in der großformatigen Malerei von Diana Janecke, die ebenso faszinierend und schön wie bedrohlich und abgründig ist. In der Arbeit „Wechselzone II“ steht eine Figur zwischen Insekt und Patient einer üppigen Vegetation gegenüber. Sie hat etwas abgestreift, ein Kleidungsstück oder eine Hülle. „Heilung ist möglich“ lautet der Untertitel – so ganz trauen können wir dem Frieden nicht, denn die Pflanzenwelt ist zwar wunderschön aber auch bedrohlich auf ihre Weise. In einer anderen Arbeit mit dem Titel „Wechselzone I“, die eine inhaltliche Vorstufe zu dieser Arbeit darstellt, liegt die Figur noch als verpupptes Etwas unter der Wasseroberfläche. Das darin liegende erzwungene Verstummen im Abtauchen in die Tiefe ist hier in der „Wechselzone II“ überwunden – eine Sprache hat die Figur deswegen noch nicht gefunden. Und doch ist es ja auch das Sprechen über Erfahrenes, das helfen kann Wunden heilen zu lassen.

Lassen sich denn Wunden mit der Zeit vergessen? Das Vergessen als heilsame Entlastung findet in der griechischen Mythologie seine Entsprechung in Lethe, die als Göttin des Vergessens das negative Pendant zu Mnemosyne darstellt, der Göttin der Erinnerung. Lethe ist auch der Name eines Unterweltflusses, der den Seelen der Verstorbenen Vergessen spendet und sie damit erst zu einer Wiedergeburt befreit.

In ihren Objekten geht Diana Janecke sehr konzeptionell und klug kalkuliert vor, fast philosophisch. Die Beutelklammern mit den Verfallsdaten nicht näher zu identifizierender Lebensmittel werden wie präparierte Insekten mit feinen Nadeln auf Leinwandkissen präsentiert. Die Daten auf den Klammern stehen ursprünglich für einen drohenden Verfall. Als Präparate in luftdichten Kästen präsentiert, ergeben sie einen unauflösbaren Widerspruch, einen Kreisgedanken: Der drohende Verfall wird quasi aufbewahrt und somit vor dem eigenen Verfall beschützt, der bei näherer Betrachtung nicht wirklich droht, da es sich um unverwüstliche Plastikklammern handelt.
Im Kontext der Arbeit „Undatierter Raum“ wird noch eine deutlichere Lesbarkeit der Beutelkammern als Todeszeitpunkt evoziert. Hier fehlen die Daten auf den Klammern. Lethe, der Fluss des Vergessens, füllt hier einen Raum des Vergessens. Die Zahlen und Kreuze auf den winterlichen Bäumen des Bilderfrieses an der Wand assoziieren möglicherweise eine Kennzeichnung für ihr eigenes Ende, weil sie zur Fällung bestimmt sind. Die Klammern im Raum wirken in diesem Zusammenhang wie eine Schneedecke, eine schützende Schneedecke vielleicht, vielleicht aber auch ein Schnee von gestern – ein weiteres Sinnbild des Vergessens. Wenn Sie den Raum betreten, wird eine weitere Bedeutungsebene offenbar, es knackt und knirscht und schmerzt fast, je nachdem wie dünn ihre Sohlen sind. Etwas mit Füßen treten ist ein Wort, das hier passt. Was könnte das sein? Das Andenken an die Toten? Ein abgründige Arbeit, die ein prosaisches Material auf ebenso kluge wie scheinbar simple Weise mit poetischen Bedeutungen auflädt.

Die Leere ist ein zentral wichtiges Moment, wenn es um das Vergessen geht. Matthias Walliser wählt das Bild der leeren Lade. 42 Schubladen aus einem geologischen Institut hat er zu einem ineinander verkanteten Gebilde aufgebaut. Jedweder Ordnungswille, der solchen Sammlungen zugrunde liegt, ist hier obsolet geworden. Die Inhalte aufgelöst, verschenkt oder sonstwie entsorgt? Die Entleerung, die Anwesenheit des Abwesenden werden zum Gegenstand der Präsentation. Und noch eine andere Bedeutungsebene verbirgt sich hier, das Ordnen in Schubladen lässt sich auch auf Menschen beziehen. Immer versuchen wir unsere Umgebung zu verstehen, indem wir alles einordnen, nicht immer zum Vorteil für die anderen oder uns selbst.

Das Thema der Zeit wird in der Malerei von Matthias Walliser explizit, wenn Versatzstücke von Sprache Eingang finden. „Löst Zeit Dinge auf?“ steht da zu lesen oder „Zeit nehmen = Zeit verlieren“. Die Malweise von Matthias Walliser entspricht einer zeitgenössischen Interpretation von Art Brut oder Arte Povera. Expressiv und kraftvoll kombiniert er zeichenhafte Figuren mit Sprache und Passagen abstrakter Malerei.

In der Serie mit den lebensechten Babypuppen verbinden sich Bilder von Kindheit und einer medial und objekthaft übersetzten Erinnerung an sie mit fotografischen Aufnahmen kaum definierbarer und schwer fassbarer Oberflächenstrukturen, die wirken wie Wunden. „Die schönsten Jahre“ ist der Titel einer kleinen Skulptur. Die Babypuppe wirkt eher wie ein Folteropfer, erschöpft, von dünnen Drähten gehalten, oder wie eine teilmumifizierte Erinnerung an Verletzungen. Die violette Farbe nimmt dem Objekt ein wenig die Dramatik, überführt sie in ein Sinnbild. Was hat es auf sich mit den schönsten Jahren? Sind sie verloren? Waren sie schön? Welche Verletzungen tragen erwachsene Frauen in sich, die sich mit lebensechten Babypuppen beschäftigen – und das Phänomen ist nicht selten, wie der Künstler in seiner Tätigkeit als Fotograf beobachten konnte. Taugen derlei Ersatzbeschäftigungen zur Überwindung von Wunden? Für mich gelingt Matthias Walliser es in seinen Bildern und Objekten eine Sprache zu finden die so verletzend sind, dass man nicht über sie reden kann.

Recht drastisch ist auch die Formulierung der Arbeit „Zeitgleichmaschine“ von Matthias Walliser. Aus einem nicht näher identifizierbaren, organartigen Gebilde führen zwei Drähte zu einer Autobatterie und lassen uns unwillkürlich an einen elektrischen Stuhl denken – aber möglicherweise auch an Beuys’ Capri-Batterie. Der elektrolytische Effekt könnte also zugleich bedeuten, dass diese Batterie nicht Energie abgibt, sondern aufnimmt – oder dass beides eben zeitgleich geschieht. Dieser Kreislauf hält sich selbst am Leben und hindert dabei die Wunde am Heilen – und zwar auf unbestimmte Zeit.

Die Arbeiten von Leena Krüger befassen sich mit weiteren Aspekten des Erinnerns und Vergessens. Das Moment der Wunde taucht hier zunächst in der Farbe Rot auf, als Band, mit dem ein Stapel kleiner Speicherkarten umschlossen ist, oder als Siegel, das eine dicke Rolle Endlosfaxpapier fixiert. Indem wir etwas aufschreiben, bringen wir es aus unserem Kopf auf ein Papier, das kann eine entlastende Funktion haben zum Beispiel in Briefen oder Tagebüchern. Die Prägedrucke der Briefe von Leena Krüger gehen einen Schritt darüber hinaus, indem sie als Schattenbilder tatsächlicher Briefe daher kommen und auf die Flüchtigkeit von Erinnerungen anspielen. Andersherum gewendet bleiben diese Schattenbilder dauerhaft eingeprägt – und tatsächlich kann kognitionswissenschaftlich betrachtet nichts in unserem Gedächtnis vollständig gelöscht werden, zumindest nicht absichtlich oder gezielt.

Der Protagonist in Thomas Bernhards Roman „Auslöschung: ein Zerfall“ sucht seinen Heimatort Wolfsegg auf, um dort die Vergangenheit zu vergessen. Er möchte sie aktiv auslöschen: „[…] mein Bericht ist nur dazu da, das in ihm Beschriebene auszulöschen, alles auszulöschen, das ich unter Wolfsegg verstehe, und alles, das Wolfsegg ist […]. Mein Bericht ist nichts anderes als eine Auslöschung […]. Mein Bericht löscht Wolfsegg ganz einfach aus.“ (AU 199)

Das Aufschreiben des Erlebten kann eine mögliche Strategie sein, mit der Vergangenheit zu leben. Die Kulturwissenschaftlerin und Erinnerungsforscherin Aleida Assmann bemerkt hierzu in ihrer Besprechung des Buches weiter leben von Ruth Klüger, „Worte nehmen das Trauma nicht in sich auf. Weil sie allen gehören, geht nichts Unvergleichliches, Spezifisches, Einmaliges in sie ein, und schon gar nicht die Einmaligkeit eines anhaltenden Schreckens. Und doch bedarf gerade das Trauma der Worte. Diese Worte sind für Klüger allerdings nicht die Worte der Erinnerung und Erzählung, sondern der Beschwörung und Hexerei.“ Als eine derartige Bannung von Verletzungen können auch die Objekte von Leena Krüger verstanden werden.

In ihrer Malerei evoziert Krüger häufig Erinnerungen an Landschaften oder auch an urbane Elemente. Ausgehend vom Malprozess selbst lässt die Künstlerin Formationen vor uns auftauchen, die wirken wie im Nebel versunken oder halb daraus aufgetaucht – wie in den Bildern aus der Serie „Morgenzug in den Süden“ oder in den Werken „Felder 1 und 2“. Es sind Geländer, Säulen, Masten oder Zäune, Markierungen oder Begrenzungen. Aber auch landschaftliche oder maritime Weiten und Räume, die uns hier begegnen. In Schichtungen, Übermalungen und Freilegungen, im Aufeinandertreffen von diffusen Passagen und konkreten Formen und Zeichen wirken sie wie Erinnerungen, wie aus den Tiefen des Vergessens aufgetaucht oder teilweise versunken. Dabei springen die Bilder zudem zwischen abstrakt und konkret, je nachdem wie wir unseren eigenen Fokus setzen. Und sie Springen zwischen Vergessen und Erinnern.

Für die Serie „Früher war alles größer“ arrangiert Leena Krüger viele kleine solcher Erinnerungsbilder, die zugleich auch im Versinken in der Diffusität immer auch das Vergessen thematisieren, zu einer fragmentarischen Installation, deren Kern sich um die Frage bewegt, warum früher alles größer war. Wenn Sie selbst an die Orte ihrer Kindheit kommen, geht es Ihnen vielleicht auch so. Und vielleicht ist damit auch die Chance gegeben die Dinge aus der Distanz anders und neu zu sehen. Auch das kann heilsam sein.

Ist es denn also so, dass die Wunden nur verblassen oder kleiner werden und damit weniger relevant? Hinter einem Nebel verschwinden? Diffus werden? Dass sie hinabsinken oder aufgeschrieben werden, um sich zu entlasten oder um die Erinnerungen zu bannen. Die Zeit heilt alle Wunden? Wenn das gelingen soll, was tritt dann an die Stelle dieser Wunden – möglicherweise eine Leere? Ein Fluss des Vergessens, leere Schubladen? Legt sich eine schützende Decke aus neuen Erfahrungen darüber? Ist Heilung möglich und wenn ja, wie vollständig kann sie sein?

In der sehr feinsinnigen und malerisch aufregenden Serie der Wimperntierchen stellt Leena Krüger noch ein anderes Sinnbild zum Weiterdenken vor. Diese Einzeller teilen sich unendlich oft und beginnen jedes mal ein neues Leben, in dem etwas vom Vorgänger weiterlebt. Und doch: Im Dasein dieser Einzeller ist die Erinnerung nichts und der Neubeginn alles. Flüchtig wie ein Wimpernschlag kommt uns auch unser Leben manchmal vor. Es gibt eine andere Seite des Vergessens von Dingen, die man eigentlich festhalten möchte. Und vielleicht ist es manchmal auch heilsam die Wunden zu bewahren, ihren Schrecken zu verkleinern, sie aber nicht zu vergessen, sie als ein Teil von uns zu begreifen.

Obwohl es hier in der Ausstellung nicht um eine biografische Aufarbeitung belastender Erinnerungen geht, so führen uns die Künstler doch exemplarisch ihre selbst entwickelten Strategien und Möglichkeiten vor, mit Erinnerungen und Wunden umzugehen und sie letztlich zu transformieren, in etwas anderes zu übersetzen, das wiederum neue Bedeutungen generiert – in der Kunst.

– Anne Prenzler